Ian McEwan reist in die Zukunft

Kultur

In seinem neuen Roman blickt der britische Erfolgsautor aus dem Jahr 2119 auf unsere Gegenwart – und auf das, was uns bevorsteht.

Wenn die Welt auch vor die Hunde geht, wird immer noch gelesen: Ian McEwan.

Wenn die Welt auch vor die Hunde geht, wird immer noch gelesen: Ian McEwan.

(Foto: IMAGO/TT)

Von Stefan Kister

Normalerweise haben Dystopien eine eindeutige Blickrichtung: nach vorn. Sie malen aus, was kommt, wenn alles so weitergeht. Insofern wäre Ian McEwans neuer Roman „Was wir wissen können“ diesem Genre zugehörig. Denn er greift voraus in eine Welt, über die diverse Disruptionen hinweggefegt sind. Die Meeresspiegel sind angestiegen, „begrenzte Atomkriege“ haben das Fass zum Überlaufen gebracht; in den 2040er Jahren verschluckte eine gewaltige Überschwemmung die Küstengebiete Europas, Westafrikas und Nordamerikas und mit ihnen jede Menge großer Städte. Wo einmal die zusammenhängende Landfläche Großbritanniens war, ist eine nur noch über gefährliche Fährwege verbundene Archipellandschaft entstanden. Großrussland hat sich das darniederliegende Deutschland einverleibt, Nigeria ist die neue Supermacht. So weit, so dystopisch, was man eben so wissen kann, von heute aus betrachtet.

Doch anders als in vergleichbaren Unternehmungen hat der britische Erfolgsautor seiner literarischen Zukunftsrakete gewissermaßen eine Art Schubumkehr eingebaut. Denn so wie man sich heute dafür interessiert, was die Zukunft bringt, interessieren sich Leute in den ersten Jahrzehnten des 22. Jahrhunderts offenbar dafür, was die umgetrieben hat, die vor ihnen lebten: die die Meere vergiftet, die Wälder vernichtet, Demokratien zerstört und aus kurzfristiger Gier das langfristige Überleben der Menschheit auf Spiel gesetzt haben.

Und für Reisen in abgründige Innenwelten und Mentalitätslagen gilt offenbar auch in hundert Jahren noch die Literatur als das Vehikel der Wahl. Zumindest unter Philologen wie Thomas Metcalfe, der sich auf englische Dichtung von 1990 bis 2030 spezialisiert hat. Mit geradezu obsessiver Leidenschaft erforscht er insbesondere das Geheimnis um das verschollene Hauptwerk eines der größten Lyriker seiner Zeit, eines gewissen Francis Blundy.

„Was wir wissen können“ handelt von der Suche nach einem verschollenen Meisterwerk

Ganz schön schlau, die Idee, aus der Perspektive einer fiktiven Zukunft die Rekonstruktion der eigenen Gegenwart zu verfolgen. Allerdings vielleicht etwas zu schlau, als dass daraus wirklich ein überzeugender Roman werden könnte und nicht nur eine Spielwiese für altmeisterliche Kunst-Ertüchtigungen. Eine solche ist der Sonettenkranz, der von Blundy im Oktober 2014 während eines Abendessens anlässlich des 54. Geburtstags seiner Frau vor ausgewähltem Kreis vorgetragen wurde – und der seitdem als verschwunden gilt.

Ein Sonettenkranz ist ein ziemlich komplexes Ding, es mag unter McEwans Kollegen noch solche geben, die sich auf diese Art lyrischer Artistik verstehen. Aber um ausgerechnet an einem derartigen Objekt vorführen zu wollen, mit welchen Mitteln Geisteswissenschaften vergangene kulturelle Epochen zum Leben erwecken können, muss man die Gegenwart wohl aus dem Blickwinkel einer gelehrten Oxforder Kaminrunde betrachten. Und es für möglich halten, dass das Manuskript eines manieristischen Gedichts, das die Liebe und die Natur feiert, von fossilen Naturzerstörern aufgekauft werden könnte, um es aus der Welt zu schaffen.

Durchaus geschickt verknüpft Ian McEwan die Geschichte des Literaturwissenschaftlers Thomas Metcalfe mit den Affären der an jenem Gastmahl beteiligten Personen sowie den Katastrophen, die in der Zwischenzeit über die Welt hereingebrochen sind. Ein lebendiges Gesellschaftsporträt wird daraus nicht. So sehr Lebendigkeit als Aufgabe eines Autors beschworen wird, der vermitteln will, wie es war in einer bestimmten Zeit zu leben, stellt sich ihrer Erfüllung im Roman immer wieder eine überbordende akademische Lust an der Konstruktion, an Zitaten und Reflexionen in den Weg. Und vergeblich sucht ein leicht manisches Seitensprungwesen den intellektuellen Überhang auszubalancieren.

Ian McEwan erzählt von privaten Obsessionen und universalem Kunstwollen

Blundys Frau Vivien war zunächst mit einem Geigenbauer verheiratet, dem naturwüchsigen Gegenbild zu dem so charismatischen wie snobistischen Dichter. Viviens erste Ehe ist im überraschenden Ausbruch einer Alzheimererkrankung erloschen – vielleicht auch unter Mitwirkung des neu in ihr Leben getretenen Geistmenschen?

Zwischen Amnesie und den philologischen Gedächtnisanstrengungen, zwischen Vergänglichkeit und Nachleben, Katastrophe und Wiedergeburt, privaten Obsessionen und universellem Kunstwollen sucht der Roman seinen Weg – und findet die Lösung schließlich in einem von Vivien einst vergrabenen Manuskript. Wenn man so will, einem Roman im Roman, der ein dunkles Geheimnis lüftet und endlich eine Art belletristische Gegenprobe bildet zu den spinnenblutgetränkten Rekonstruktionen des Literaturwissenschaftlers Thomas Metcalfe.

Wie bei einem Sonettenkranz schließt sich mit dieser Horizontverschmelzung der Kreis. Das ist bewundernswert, aber auch ein wenig langweilig und redundant. Und bei aller Kunstfertigkeit wird man das Gefühl nicht los, dass sich hier nicht nur die erzählte Recherche um die Leerstelle eines verschollenen Hauptwerkes dreht, sondern der Roman als Ganzer um sich selbst.

Ian McEwan spart nicht an dem, „was wir wissen können“, aber bleibt schuldig, was ein kluger Kopf einmal das „Je ne sais quoi“ genannt hat, das gewisse Etwas als Schöpfungsgeheimnis großer Kunst. Aber wer weiß schon, welche Geschichten Philologen einmal diesem Alterswerk über unsere oder ihre Zeit ablesen werden: Endzeitgefühl oder Zukunftsgerechtigkeit.

Ian McEwan: Was wir wissen können. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes Verlag. 480 Seiten, 28 Euro.

Info

AutorIan McEwan, geboren 1948 in Aldershot (Hampshire), lebt bei London. 1998 erhielt er den Booker-Preis und 1999 den Shakespeare-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung. Seit seinem Welterfolg „Abbitte“ ist jeder seiner Romane ein Bestseller, viele sind verfilmt, zuletzt „Am Strand“ (mit Saoirse Ronan) und „Kindeswohl“ (mit Emma Thompson). Ian McEwan ist Mitglied der Royal Society of Literature, der Royal Society of Arts, der American Academy of Arts and Sciences und Träger der Goethe-Medaille.